Jahrhundertschritt

Solbrigplatz , 08468 Reichenbach im Vogtland
Jahrhundertschritt auf dem Solbrigplatz

Zwei Weltkriege, Nationalsozialismus, Kommunismus, Indoktrinierung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Unfreiheit. Ein Schritt – weit nach vorn und doch scheint der Rumpf nach hinten zu kippen, wie gefesselt in der Geschichte. Die eine Hand zum Hitlergruß gestreckt, die andere zur kommunistischen Faust geballt, der eingezogene Kopf, gesichtslos, verschwindet fast im gespaltenen Körper. Der hintere Fuß mit Soldatenstiefel beschuht, der vordere nackt. Hier werden Fragen gestellt: zur Vergangenheit, zur Gegenwart und zur Zukunft.
Dabei hat Mattheuer nicht – wie viele Kritiker ihm später vorwarfen – die beiden politischen Regimes auf eine Stufe gestellt und unmittelbar mit einander verglichen. Vielmehr ging es ihm um den einzelnen Menschen, der zwischen diesen Systemen ängstlich, mit sich selbst hadernd und verunsichert aufgerieben wurde. Insofern könnte es sogar eine Selbstreflexion, ja ein Selbstbildnis Mattheuers sein, denn auch er war in den letzten Monaten des Dritten Reiches Angehöriger der Wehrmacht, während er einige Jahre später Staatskünstler der DDR und Parteimitglied der SED wurde. Wie viele seiner Generation wurde er in die Mangel zweier Ideologien genommen, die letztlich zur Enttäuschung führten und ihn innerlich auf eine Zerreißprobe stellten. Für diese These spricht auch, dass die einzelnen symbolträchtigen Körperteile des Jahrhundertschrittes bereits in den 1980 entstandenen Grafiken „Verlorene Mitte“ und „Verlust der Mitte“ zu finden sind. Die Titel sind gleichzeitig der unmissverständliche Hinweis auf die zentrale Aussage der Werke: ein Mensch, der offensichtlich durch äußere, ihm übergeordnete Umstände seine innere Mitte im Leben verloren hat.

Die ambivalente Botschaft des Motivs muss seinerzeit schockiert haben. Eine Figur mit diesen Gesten, dieser Haltung, dieser Präsenz. Am Ende der 1980er-Jahre war daher die enorme Außenwirkung auch nicht nur auf den Kunsthausstellungen in der ehemaligen DDR spürbar sondern erregte auch in der Bundesrepublik Aufmerksamkeit. Zwei Abgüsse der Plastik wurden bis zur Wende von westdeutschen Museen bzw. Galerien angekauft. Die heutigen Ausstellungsorte sprechen für sich. Gerade vor dem Haus der Geschichte in Bonn und dem Zeitgeschichtlichem Forum in Leipzig, sowie die ursprünglich vor dem Reichstag in Berlin geplante und nun in Potsdam vollzogene Errichtung der vergrößerten Bronze, machen die herausragende Bedeutung des Werks deutlich.
Somit ist der Jahrhundertschritt mit seiner ungebrochenen Symbolkraft nicht nur die eindrucksvollste Plastik des international beachteten Künstlers Wolfgang Mattheuer, sondern auch eines der wichtigsten Werke der bildenden Kunst in Deutschland überhaupt.

Quelle: Kunsthalle Vogtland | Text Frank Lorenz


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